Einblicke in die Jugendhilfe an unseren SRH Schulen
In Neckargemünd helfen wir traumatisierten und sozial und/oder emotional stark belasteten Kindern und Jugendlichen. Jennifer Pfauser, Bereichsleiterin der Jugendhilfe unserer SRH Schulen, erzählt von dieser besonderen Arbeit.
Jenny, was muss man sich unter „Jugendhilfe“ vorstellen?
Wir haben unterschiedliche Angebotsformen der Hilfe zur Erziehung: In unseren Tagesgruppen ist es das Ziel, durch soziales Lernen in der Gruppe, kontinuierliche Familienarbeit in der häuslichen Gemeinschaft sowie schulische Unterstützung, die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu fördern und den Verbleib in der Familie zu sichern.
Die Zielgruppe unserer stationären Jugendhilfe sind junge Menschen ab 5 Jahren mit einem individuellen Erziehungsbedarf und einem erhöhten Betreuungsbedarf. Beispielsweise psychische Erkrankungen und/oder starke Entwicklungsverzögerungen können Gründe dafür sein, dass eine stationäre Aufnahme notwendig wird. Es fehlen auch die notwendigen familiären Strukturen, welchen Kindern und Jugendlichen für gewöhnlich Orientierung und Halt in dieser Lebensphase bieten. Ziel ist hierbei grundsätzlich die Rückführung in die Familie.
Unsere Schulsozialarbeit, als ambulantes Hilfeangebot, erstreckt sich rund um Neckargemünd in der ganzen Region. Unsere Mitarbeitenden vor Ort leisten hier direkte Arbeit an der Schule und leisten wichtige Netzwerkarbeit.
In unserer Jugendhilfe geht es primär darum, die Kinder und Jugendlichen (wieder) zu verselbstständigen, Zukunftsperspektiven aufzubauen und soziale Kompetenzen und Umgangsformen zu etablieren und zu entwickeln; grundsätzlich: die Hilfe zur Selbsthilfe zu aktivieren und eine Teilhabe in der modernen Gesellschaft zu ermöglichen. Dies steht unter dem Fokus, individuelle Hilfen zu gestalten, die Kinder und Jugendlichen da abzuholen, wo sie gerade in ihrem Leben stehen und mit ihren Ressourcen zu arbeiten bzw. diese erstmal gemeinsam zu entdecken und für sie selbst sichtbar zu machen.
Das klingt sehr diplomatisch formuliert… was steckt dahinter?
Wir richten den Blick auf die Vielfalt und Verschiedenheit der Kinder und Jugendlichen und verstehen dies als Bereicherung. Uns liegt viel daran, sie durch einen ganzheitlichen Ansatz zu begleiten und sie zu befähigen, ein selbstständiges, eigenverantwortliches und sinnerfülltes Leben führen zu können.
Ein Großteil der Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, sind traumatisiert. Sozial, emotional belastet. Wir haben Kinder mit Aggressionspotenzial, Impulskontrollstörungen, und wir haben Kinder mit selbstverletzendem Verhalten. Sofern ein Kind aber nicht akut suizidal ist, können wir das in Kombination mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie gegebenenfalls gemeinsam adressieren. Jeder Fall ist sehr individuell, und es gibt leider keine Gebrauchsanweisung.
Wir haben Kinder, die einen mit Dingen bewerfen und die Andere beschimpfen. Wir haben aber auch solche, die sich sozial komplett isolieren und nach innen gehen. Wir hatten einmal einen Jugendlichen, der sich in sein Zimmer eingesperrt hat, nur mit Kapuze herumlief und mit niemandem gesprochen hat. Wir haben teilweise auch Mädchen und Jungen hier, von denen man nicht weiß, was ihnen alles zugestoßen ist.
Viele junge Menschen kommen aus bindungs- und beziehungsgestörten Verhältnissen. Teilweise haben die Eltern selbst schon ihre Päckchen zu tragen: Drogen, Alkohol, manche haben selbst Missbrauch erfahren und sind einfach nicht in der Lage, ihre Kinder so zu versorgen, dass sie sich in der Gesellschaft zurechtfinden.
Die Arbeit mit den Eltern ist also auch sehr wichtig…
Ja, absolut. In diesem ganzen Konstrukt ist die Eltern- und Familienarbeit extrem wichtig. Wir befinden uns in einer Art Dreieck aus Jugendamt, den Eltern und uns. Diese drei müssen miteinander agieren. Aber das ist nicht immer so einfach. Manche Kinder sind da, weil die Eltern mit ihnen nicht mehr klarkommen und das Jugendamt mit ins Boot geholt wird. Es gibt aber auch Kinder, die hier anrufen und uns sagen, dass sie nicht mehr können und zu uns möchten. In solchen Fall müssen wir unsererseits das Jugendamt einschalten. Ohne das Jugendamt können wir nichts tun.
Was muss einem Kind widerfahren sein, dass es bei Euch anruft?
Die Gründe sind ganz unterschiedlich. Natürlich gibt es Kinder, die einfach einmal trotzig sind. Das ist aber sehr selten der Fall. Normalerweise sind es schon Kinder, die in Not sind, weil sie körperlich und/oder psychisch misshandelt werden.
Manchmal sind es auch Lehrer oder Trainer in einem Sportverein, denen etwas auffällt und die das Jugendamt kontaktieren. Wenn das Kindeswohl gefährdet ist, entscheidet auch das Familiengericht. Alle Fälle sind sehr individuell und spezifisch.
Wieviel Kinder habt Ihr aktuell hier?
Wir haben in unseren Regelwohngruppen 16 Plätze. In unserer intensivpädagogischen Kinderwohngruppe sind es 7, und in der Verselbständigungsgruppe im Jugendwohnen haben wir vier Plätze. In unseren Tagesgruppen haben wir aktuell um die 50 Kinder. Die Anzahl hängt in der Schulsozialarbeit vom Standort ab.
Das klingt für mich als Laien nach relativ wenig… vermutlich ist der Bedarf viel höher?
Ja, der Bedarf ist deutlich höher. Wir könnten rein stationär ohne weiteres zwei weitere Gruppen aufmachen. Aber auch wir haben einen Fachkräftemangel; wir können nichts eröffnen ohne die entsprechend ausgebildeten Fachkräfte. Ehrenamtlich können wir beispielsweise niemanden einstellen; wir haben einen strikt vergebenen Fachkräftekatalog.
…und ich vermute, selbst wenn man entsprechend ausgebildet ist, erwartet einen doch eine große Herausforderung.
Stell dir vor, du stehst vor einem Kind, das dich beschimpft, versucht, dir die Bürotür einzutreten, und das Gegenstände nach dir schmeißt. Damit umzugehen ist nicht leicht. Aber das eigentliche Wichtige ist die Frage: was drückt das Kind damit aus? Ist es aggressiv? Ruft es nach Hilfe? Ist es verzweifelt? Oder will es einfach nur sagen: hab mich lieb?
In dem Zusammenhang ist bei uns ist die Fort- und Weiterbildung unserer Mitarbeitenden ein zentrales Thema. Die gesellschaftlichen Entwicklungen und Bedarfe sind immens gestiegen, und dadurch auch die Anpassung an solche. Ich bin extrem stolz auf alle Mitarbeitenden in unserer Jugendhilfe. Zum Einen wegen ihres Interesses an Fortbildung, zum Anderen für das Herzblut, das sie in ihre Arbeit stecken, und für ihr unglaubliches Engagement.
Wenn ein Kind aggressiv ist, schreit, tritt, wie findet man dann heraus, was es damit ausdrücken will?
Dafür braucht es eben ein – multidisziplinäres – Team, Expertise und Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Eine gute Diagnostik und Begleitung sind sehr wichtig. Wir haben einen psychologischen Fachdienst bei uns, der die Teams begleitet und Fallanalysen macht und die Aufarbeitung mitgestaltet.
Wir hatten gerade einen Fall, wo ein Kind eine Mitarbeiterin geschlagen hat. Das geht natürlich nicht, und in solchen Fällen müssen wir dann abbrechen. Da müssen wir Grenzen setzen.
Wir hatten in unserer intensivpädagogischen Kinderwohngruppe einmal ein Kind, das abends immer Reißnägel auf die Treppe gelegt hat. Natürlich wurde mit dem Kind gesprochen, dass man sowas nicht machen kann, auch weil sich andere Kinder verletzen könnten. Das Kind hatte Einsicht und auch Verständnis, aber hatte es dennoch immer wieder gemacht. Warum? Nach einiger Zeit kamen wir darauf: es wurde als kleines Kind missbraucht und wollte sich so vor weiteren Missbräuchen schützen. Die Reißnägel waren eine Art Alarmanlage, um sich zu schützen.
Erzähl mir etwas mehr über Dich. Was ist Dein Antrieb, Dein Hintergrund?
Ich habe eine Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin gemacht und dann in unterschiedlichen Umgebungen gearbeitet: ich war in einem Hort tätig, in einer Kita, in einer privaten Grundschule, und ich habe in einer Inobhutnahmestelle gearbeitet. Aufbauend habe ich, neben Führung in sozialen Organisationen, eine Weiterbildung für systemisches Coaching für Organisation und Entwicklung gemacht. Kurz nachdem hier 2016 die stationären Gruppen eröffnet wurden, kam ich 2017 dazu, und wenn man so etwas mit aufbaut, dann steckt da sehr viel Herzblut mit drin. Das hat mir einerseits sehr viel Spaß gemacht, andererseits hat mich das sehr bewegt. Ich hätte nie gedacht, dass für mich jeweils ein Arbeitsfeld bzw. -umgebung so viel Bedeutung bekommt.
Es ist für mich extrem spannend zu sehen, welche Themen diese Kinder und Jugendlichen eigentlich beschäftigen, wo es hängt, sozusagen. Man sieht, wie sich die Kinder entwickeln und weiterentwickeln. Man sieht, welche Möglichkeiten es gibt, aber man sieht auch die Grenzen. Ich weiß, was ich tue. Ich unterstütze Kinder und Jugendliche dabei, ein selbstständiges Leben zu führen.
So wie wir bei der SRH generell Menschen dabei unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen…
Ja, genau. Passt perfekt, oder? (lacht)
Wie ging es dann weiter?
Ich habe irgendwann die Abteilungsleitung im stationären Bereich übernommen, und dann die Bereichsleitung. Ehrlicherweise habe ich mit der Rolle zunächst etwas gehadert, weil ich damit weiter weg von der Basis war, wo eigentlich mein Herzblut hängt. Das fehlt mir natürlich. Aber: ich kann gestalten und verändern, und zwar so, dass es „unsere“ Kinder und Jugendlichen so gut wie möglich haben. Ich habe die Möglichkeit, unsere Jugendhilfe intern und extern zu vertreten und mich im Unternehmen übergreifend zu engagieren. Das schätze ich sehr, ebenso wie die Entwicklungsmöglichkeiten und den wertschätzenden Blick auf Mitarbeitende bei uns.
Kannst Du Deine Arbeit nach Feierabend „ablegen“, oder nimmst Du sie mit nach Hause?
Es rattert natürlich auch abends, nachts und auch am Wochenende. Und wenn irgendwo eine Situation entsteht, die schnelles Handeln erfordert, ist man natürlich auch am Wochenende da. Als das oben erwähnte Kind die Mitarbeiterin schlug, war Wochenende, und ich war gerade privat auf dem Weg nach Heidelberg. Die Fahrt endete dann in Neckargemünd.
Ich weiß aber, dass das auch an mir selbst liegt; mein Verantwortungsgefühl und mein Gewissen würden es gar nicht erlauben, komplett abzuschalten. Ich schreibe mittlerweile die Dinge „weg“, dann sind sie für eine Zeit aus meinem Kopf raus, und ich versuche, meinen Fokus bewusst zu lenken. Ein Lernfeld für mich.
Wenn ein Kind „entlassen“ wird, kommt aber gleich das nächste. Wie gehst Du damit um?
Ja, das stimmt. Man ist in der Jugendhilfe ja niemals „fertig“. Es gibt keinen Endpunkt. Wenn Kinder etwa in ihre häusliche Umgebung zurückkehren, kommen andere Kinder mit anderen Problemen nach. Damit muss man umgehen können. Aber allein diese Erkenntnis entlastet. Dennoch schöpfe ich aus meiner Arbeit auch Kraft. Ich bin hier schon richtig aufgehoben.
Jenny, danke Dir für dieses Gespräch!